Wo auch immer dieser merkwürdige Junge herkam, war allen ein Rätsel. Er verbrachte seine Jugend in einem Dorf irgendwo in den Waldländern zwischen Albar und Salkamar. Eines Tages stand er einfach im Dorf, sprach kein Wort und wollte auch nicht verschwinden. Die Frauen hatten Mitleid mit dem Jungen, den Männern war er ein Dorn im Auge: Der merkwürdige Junge war bestimmt ein böses Omen.
Er selbst war recht hübsch und gut gebaut: Er hatte lange, schwarze Haare, die ihm über das kantige, lange Gesicht fielen. Irgendwie wirkten seine Gesichtszüge wie die eines Elfen, aber er war keiner.
Sonderbar war außerdem, dass er Bärenkräfte zu besitzen schien. So gab es jenen Vorfall, wo der Dorfschmied, der als stärkster und schnellster Kämpfer des ganzen Dorfes galt, zu diesem jungen Manne kam, um ihn zu vertreiben. In seinen Augen brachte dieser Jungspund nur Unglück: Er redete ja nie, arbeitete kaum für das Dorf - Ja, was tat er denn eigentlich? Dieser Junge musste irgendwie verschwinden und das wollte er jetzt übernehmen.
Doch als er langsam auf ihn zuging, um ihn dann schnell zu packen und zu verdreschen, da wirkte es, als hätte der Junge bereits jede seienr Absichten durchschaut. Mit einem Satz sprang der Bursche blitzschnell vor, und traf den Schmied mit voller Kraft am Unterkinn. Es gab ein dumpfes Geräusch und im nächsten Moment lag der Schmied bewusstlos am Boden.
Fortan mieden ihn auch die Frauen im Dorfe. Gar unheimlich war ihnen dieser Kerl geworden, der jeden Abend in einen der Heuböden kroch, um dort zu schlafen, und am nächsten Tag wieder herunterkam, um im Dorf zu stehen und die Leute zu beobachten und sich vielleicht ab und zu etwas Geld mit einfachen Arbeiten zu verdienen.
Eines anderen Tages gab es einen weiteren sonderbaren Vorfall, der die Leute umso mehr erstaunte. Ein Händler für viele feine Tücher und Stoffe besuchte die Stadt und erblickte den Jungen. Er sah dessen schmutzige Kleidung und witterte ein Geschäft. Geschickt redete er auf ihn ein und bot ihm eine schicke Tunika an, zwar leicht irritiert von dem Schweigenden, aber man wusste ja nie, ob man nicht doch ein Geschäft machen konnte.
Just in diesem Moment, als der Bursche die Tunika überzog, schaute er an sich herab und fing an zu sprechen: Er redete mit einer tiefen Männerstimme und sagte ganz einfach "Sieht gut aus", während er dem Händler ein Silberstück in die Hand drückte.
Man sagt, dass die Dorfbewohner sich so betrogen gefühlt hätten, dass sie ihn ein paar Tage nach dem Vorfall verjagt haben. In ihrem Dorf jedenfalls haben sie nie wieder von ihm gehört.
Es gibt viele jener Märchen und Legenden, die sich die Menschen am Lagerfeuer und in den Tavernen erzählen. Viele davon erzählen von dem jungen Sonderling, obgleich die Leute sich nicht bewusst sind, dass die Person in ihren verschiedenen Geschichten oft eben jener Bursche war.
Immer, wenn in der Welt Unrecht geschah tauchte dieser Kerl auf. Wie ein heiliger Rächer, wie ein selbsternannter Rechtbringer sponnen sich seine Bande um die Welt. Wo er sich einmischte, veränderte sich die Geschichte, und das Rad der Zeit blättert eine Seite weiter.
So geschah es einst in Krigam, einer Stadt in Gynk, dass sich eine rebellische Bande näherte, um eben jene Stadt zu überfallen und zu plündern. Ihr Vorhaben hatte durchaus Erfolg: Bewaffnet und zu Pferden überraschten sie die Stadt in der Nacht und begannen damit, die Häuser abzubrennen. Nun muss man dazu sagen: Krigam war ein Sündenpfuhl. Kinder und Frauen gab es hier nicht; nur die reichen, fetten Händler und jede Menge Abschaum, der die umliegenden Dörfer dominierte, vergewaltigte und benutzte.
Wie jene Bande an all' die Waffen gekommen ist, blieb ungewiss. Was man jedoch herausfand, war, dass sie allesamt Burschen und Männer aus den unterdrückten Dörfern waren. Irgendwo unter ihnen entdeckte man auch einen Sonderling, der wenig sprach und des Anführer's rechte Hand war. Man sprach davon, dass er der eigentliche Initiator der Aktion gewesen sei, doch das sind nur Gerüchte. Er war ein merkwürdiger Mensch, der leicht elfische Gesichtszüge und ein kantiges, langes Gesicht hatte. Die Haare waren kurz und schwarz.
Viele starben in dem Flammenmeer und im dem Kampf, doch am Ende siegten die Rebellen über Krigam und errungen die Stadt, endlich befreit von den Ketten der Mächtigen.
Der sonderbare Mann jedoch, ward nach dem Kampf verschwunden und nie mehr gesehen.
Erinnern wir uns an den sonderbaren Burschen? Die Zeit spielt eine wichtige Rolle, verändert sie sich doch unentwegt. Leben wir oder träumen wir? Sind wir vielleicht alle im Traum und müssen nur aufwachen? Die Schatten der Vergangenheit erzählen viele Geschichten von merkwürdigen Ereignissen, und jenes von dem nun berichtet wird, gehört ohne Frage dazu.
Wir befinden uns im Winter 1643 Jahre vor dieser Zeitrechnung. Die Gelehrten nennen diese Zeit den "Wolfswinter", und als solcher ist er in die Annalen der Geschichte eingegangen. Auch dieses Mal gibt es wieder jemanden, der sich einmischt. Gehen wir davon aus, dass der Bursche von damals erwachsen geworden ist. Ja, vielleicht hat er sogar schon ein recht stattliches Alter erreicht.
In vielen Albarischen Dörfern werden die unschuldigen Bewohner von Wölfen angegriffen. Wölfe, die wahrscheinlich von Lor-Angur und dessen Magiern ausgesendet wurden. Wölfe, um zu töten. So auch in Lotesch, einem Dorf in dem seit einigen Tagen ein Fremder im Gasthaus lebt. Er spricht wenig und verbringt den Tag damit, Wein zu trinken oder zu speisen. Worauf er wartet, weiß niemand.
Dennoch spielte er eine entscheidende Rolle, als die Wölfe angriffen. Spät Abends, als niemand damit rechnete, schlich sich knurrend ein Rudel Wölfe in das Dorf. Es war der Fremde, der als erster auf die Straße stürmte, um sich ohne Furcht auf den Alphawolf zu werfen und mit diesem zu ringen.
Den Geschichten zufolge soll er den Wolf mit den bloßen Händen besiegt haben, woraufhin die anderen Wölfe fürchterlich jaulend in alle Himmelsrichtungen verschwanden. Man sagt auch, dass der Fremde bei dem Kampf sein Augenlicht verloren haben soll. Er wurde wohl von den Bewohnern des Dorfes als Held gefeiert und man hielt ihn einige Wochen, in denen er nicht sprach, im Bette, um seine Wunden zu versorgen.
Eines Morgens jedoch, war er nichtmehr in seiner Kammer, und man hatte nie wieder etwas von ihm gehört.
Vor langer Zeit ereignete sich eine Gegebenheit in der Stadt Albar, zur Mittagszeit an einem Spätsommertag hin. Die Sonne stand hoch und wand sich hinter vielen Wolken und einem blauen Himmel. Die Wärme war deutlich zu spüren, wenn nicht gerade ein kühler Wind durch die Gassen und Häuser blies. Auf dem Markt herrschte reges Treiben, wo ein Jeder versuchte, seine Waren feilzubieten und die Marktschreier sich lauthals Gehör verschafften. Hier und da waren Stadtwachen, die sich mit strengen Blicken autorithät verschafften und aufpassten, dass möglichst niemand auf dumme Gedanken käme.
In dieser Masse bemerkte sicherlich niemand den alten Blinden, der, auf seine Krücke gestützt, durch die Straßen wanderte und seinen Umhang enger um den Hals schlug, als sei ihm entweder kalt, oder er würde versuchen, seine Scham zu verbergen, dass er in einem solch jämmerlichen Zustand war: seine Kleidung war alt, und sie stank. Bis auf die schmutzige Augenbinde, war nicht viel von seiner Mimik zu erkennen. Weder lächelte er, noch zeigte er sonst eine Expression.
So wanderte dieser Alte nun, als ihm eine Schar von Menschen entgegenkam. Er konnte zwar nicht ausmachen, was genau da auf ihn zukam, doch seine Ohren verliehen ihm eine weitaus bessere Gabe, die Dinge aufzufassen. Und so schien es, als wäre es ein Trupp von Soldaten, oder ähnlich bewaffneten Personen. Anstatt ihnen auszuweichen, ging er geradewegs in die Masse von Leuten herein. Im nächsten Augenblick wurde er auch schon unsanft zurückgestoßen und landete hart auf dem Boden.
"Verzieh dich, du Penner! Was fällt dir ein, dem großen Hohepriester Brágons im Weg herumzustehen? Scher dich fort" schien einer der bewaffneten ihn anzuschnauzen. Der Alte rappelte sich ganz gemächlich auf, lehnte sich wieder auf seine Krücke und ganz plötzlich sah man ein Lächeln auf seinen Lippen. "Aber, aber, mein werter Herr. Seid nicht zornig, bitte nicht! Ich habe hier eben diesen goldenen Ring gefunden, und ihr könnt mir doch sicher sagen, wem er gehört, habe ich recht?"
Mit diesem Satz zog der Alte einen unscheinbaren goldenen Ring aus seiner Tasche und hielt ihn höher in die Luft. "Ein Ring aus Gold? Gib ihn her, sofort! Ich will ihn haben, er gehört mir und meiner heiligen Sache!" hörte der Alte nun eine andere Stimme, die etwas geschwollener klang und irgendwie musste dieser sprechende Mensch wahnsinnig fett gewesen sein. Ein ekliges Lachen folgte, als man dem alten Mann den Ring aus der Hand riss und ihn wieder davonstieß.
Mit einer geschickten Bewegung schob sich der fettleibige Priester den Ring über den kleinen Finger, doch wollte er nicht passen. Er fluchte, zog daran, doch abziehen konnte er ihn auch nicht. Eine ziemlich verhexte Situation, wie jener Mensch schon bald finden würde, denn just als es ihm gelang, den Ring mit einem gewaltsamen Ruck abzuziehen, hatte er keinen Ring mehr in der Hand, sondern eine lebensechte goldene Schlange, die zu wachsen schien. Zischend und blitzschnell schlängelte sie sich um seinen Hals und wand sich immer enger. Ein klägliches Röcheln war das letzte, was dem dicken Kerl entwich, bevor er erstickte und zu Boden fiel.
Ein paar Monate später ereignete sich eine ganz andere Situation in einer der Hauptstädte der Gynkeesh, die zu den freien menschlichen Handelsvölker zählen. Es war früh am Morgen, und auf den Straßen waren nochnicht viele Menschen zu sehen. Nur ein paar Frauen rollten ihre Fässer zum Fluss, um sie für die kommenden Tage mit Trinkwasser zu füllen. Mancher Händler war schon dabei, seinen Stand für den Tag vorbereiten und ein anderer war mit einem großen Karren unterwegs, der voll beladen mit Gütern wie Wein, Wolle, Hafer, Kohl und anderen Nachrungsmitteln war. Dahinter noch ein Karren, dann noch einer und so weiter. Es mag für Menschen aus anderen Gefilden merkwürdig sein, diese ziemlich lange Karawane von Karren zu sehen, aber scheinbar war dies einer der größten Händler für Waren dieser Art in der näheren Umgebung.
So stand dieser stolze Kerl also vorne auf dem ersten Pferd und lenkte die Wagenkolonne mitten durch die Stadt zum Bestimmungsort, wo sie hinsollte. Wenn jemand im Weg stand, so wurde er einfach überrollt - Hier galt ganz klar sein Recht, und wenn Er hier ritt, dann hatten alle anderen von "seiner" Straße zu gehen. So war das nunmal, und dabei würde es auch bleiben, wäre da nicht plötzlich dieser alte blinde Mann am Straßenrand, der lautstark seinen Namen rief und mit einem Arm winkte. Es kümmerte ihn nicht sonderlich, schließlich war er eine sehr Bekannte Person, doch dann erregte etwas an dem Alten seine Aufmerksamkeit. Er schien eine goldene Kugel in der Hand zu halten und sie hin und herzuschwenken. Neugierig rief der Händler lautstark, um alle Wagen zum stehen zu bringen, und sprang von seinem Karren ab. Er ging auf den Zerlumpten zu und sprach ihn an: "Was habt ihr hier so eine große goldene Kugel, alter Mann? Die habt ihr doch sicher irgendwo gestohlen!".
"Nein, nein, mein Herr. Ihr liegt falsch, sie lag hier herum! Ich stolperte über sie und nun weiß ich nicht wohin damit." - "Lag hier herum, hm? Ich glaube dir kein Wort, alter Kerl. Du gibst mir besser die Kugel, ich werde sie nehmen und in meinem Bekanntenkreis herumfragen, wem sie gehört! Ich bin eine starke Persönlichkeit." sagte der Händler und lächelte selbstsicher. Natürlich würde er die Kugel für sich behalten und einen tollen Preis dafür erhalten. Damit könnte er sich dann so einige Wünsche erfüllen, und natürlich nochmehr Reichtum anhäufen.
"Sehr nobel von euch, mein Herr. So nehmt sie, nehmt sie!" sprach der Alte und warf sie dem Händler vor die Füße. Dieser bückte sich nach der Kugel und wollte sie aufheben. Sie war furchtbar schwer, aber seine Gier war so groß, dass er sie mit aller Kraft hochzog und zu seinem Karren brachte. Es kam ihm vor, als würde sie immer schwerer und schließlich musste er sie fallenlassen. In all der Anstrengung hatte er den Alten aus den Augen verloren, so schien es nun, also wäre er von der Bildfläche verschwunden. Mit den Schultern zuckend wandte er sich nun wieder der garstigen Kugel zu, traute jedoch seinen Augen nicht. Das, was vorher eine Kugel aus purem Gold war, verwandelte sich in etwas unförmiges. Ein Brummen war zu hören. Erst leise, dann immer lauter, und schließlich war es so laut, dass er sich die Ohren zuhalten musste. Nun ging alles blitzschnell: Es gab einen Knall und schon war in einem Schwarm aus surrenden goldenen Käfern, die ihn jedoch ignorierten und schnurstracks auf alles zuflogen, was er auf seinen Karren geladen hatte, und es innerhalb von Sekunden aufaßen. Sie labten sich an allem, was sie fanden, erhoben sich dann hoch in die Luft und schwirrten davon.
Der letzte Schauplatz, an dem man den merkwürdigen Blinden jemals sah, war die große Stadt Salkamaeria. Es war später Nachmittag und dennoch brannte die Hitze in der staubigen, trockenen Stadt. Jeder ging hier irgendwie seiner Arbeit nach, bis auf ein paar Bettler, die es sich an einigen schattigen Plätzen gemütlich gemacht haben, um sich ein wenig zu entspannen oder von dem erbettelten Geld dem Wein zu fröhnen. Obwohl die Salkamaerikaner als sehr ehrenvoll galten, war man doch eher besonnen, den Bettlern und Armen der Stadt aus dem Weg zu gehen. Ihnen wurde kein Hass entgegengebracht, aber man mied sie.
Ein einsamer Mann saß nun dort unter einem schmalen Baum und döste vor sich hin, als er unerwarteten Besuch bekam. Ein alter, blinder Tattergreis setzte sich neben ihn und grüßte ihn freundlich. "Hallo, mein Freund, darf ich mich zu dir setzen?" sprach er besonnen und lächelte freundlich. Der Einsame blickte kurz auf und nickte nur langsam. "Klar, nimm Platz, solange du mir nicht den Schatten wegnimmst oder mich irgendwie störst!" sagte er; dann folgte ein breites, dreckiges Grinsen auf seinen Lippen. Anstatt sich hinzusetzen, blieb der Blinde jedoch stehen und richtete seinen Kopf auf den Einsamen. Er stierte ihn so intensiv an, dass man annehmen könnte, er hätte tatsächlich Augen unter der Binde, mit denen er alles genaustens wahrnimmt. Wie eine Statue stand er dort, leicht nach vorne gebeugt. "Was stehst du da so blöd herum? Wenn du dich setzen willst, dann setz dich, ansonsten glotz mich nicht an, und halt bloss dein Maul!" sagte der Einsame barsch. Dann sah man plötzlich eine kaum wahrnehmbares Bewegung in den Beinen des Alten. Er lehnte sich zurück und setzte sich endlich neben den Einsamen. Mit einer Hand streifte er sich über den Bart, zog etwas daran, als würde er nachdenken und schaute mit abwesendem Blick in die etwas ferner gelegenen Straßen. Nun find der Alte an zu erzählen, den Blick jedoch behielt er bei. "Wisst ihr, ich bin sehr lange unter den Menschen umhergereist, und ich habe sie beobachtet. Ich habe sie auf ihren Glauben geprüft und auf ihre Gelüste. Und überall sind die Menschen gleich, Reiche und Arme! Sie nehmen, was sie kriegen können und sind gierig und aggressiv. Und keine der großen Städte der Menschen, sei sie noch so berühmt, hat sich bisher irgendwie abgehoben." erklärte der Alte in langsam gesprochenen, bedächtigen Worten. "Und nun sitze ich bei euch, einarmiger Mann! Lasst euch nicht daran stören, dass ich hier philosophiere. Vielleicht ist es ein Test an euch, das sage ich euch ganz offen! Auch euch möchte ich prüfen! Noch habe ich die Hoffnung in die Menschen nicht verloren!" sagte er dann und lächelte etwas. In dem Einsamen ging eine Veränderung vor; doch war sie nicht von positiver Natur. Er legte seine Stirn in Falten, runzelte etwas und schaute dann zu dem Alten. "Was faselst du da für einen Mist, alter Mann? Scher dich fort!" sagte er dann wütend und schlug mit der Hand nach dem Alten aus. Sein schmieriges Gesicht war vernarbt.
Von Pein getroffen stand der Alte schnellstens auf und humpelte davon, sein Gesicht von Trauer und Enttäuschung gezeichnet. Der Einsame grinste ihm noch breit hinterher, johlte und gröhlte vor Freude. Am nächsten Tag fand man ihn in irgendeiner Gasse liegen, erst ausgeraubt, dann erschlagen; wahrscheinlich von anderen seiner Sorte.
Der Alte wurde niemehr gesehen.
Niemehr? Vielleicht doch, aber kann man das nicht sicher sagen, weil nie groß darüber erzählt wurde.
Es gab einen dunklen Wald, fernab von jeder Zivilisation. Sowohl Tags, als auch Nachts war es dort immer dunkel, neben den Straßen begann sofort das Unterholz und das Dickicht, durch das kaum jemand durchdringen konnte. In diesem Wald wanderte eines Tages ein alter Mann, die Augen mit einer Binde abgedeckt. Langsam und bedächtig ging er durch diesen Wald. Die Bewohner der umliegenden Dörfer hätten diesen Alten sofort für geisteskrank erklärt, dass er sich alleine durch diesen Wald traut. Weiss doch ein jeder, dass hier Diebe und Gesindel lauert. Es dauerte also auch nicht lange, bis passierte, was passieren musste. Mit lauten Schritten sprang eine Gestalt aus dem Gebüsch und stellte sich vor den bliden alten Mann. "Gib mir alles, was du hast" schrie er mit schriller Stimme. Der Greis jedoch bewegte sich kein Stückchen und hielt sich still auf seine Krücke gestützt. Jene Person, die eben aus dem Unterholz kam, schien durch die Ruhe des Alten verunsichert zu sein.
Der Dieb hatte nur einen Arm, in dem er ein kleines, rostiges Messer eng umklammert hielt, der andere Arm war ein Stumpf. Der Alte bewegte sich immernoch kein Stückchen. "Was ist denn los?! Hörst du schlecht? Gib mir was du hast, sonst schlitz ich dich auf!" schrie der Bandit, und fing langsam an zu zittern. Irgendwie schien ihn diese Gestalt vor ihm aus der Ruhe zu bringen. Sie war nicht wie andere Leute, die er überfallen hatte: Personen, die laut aufschrien und sofort alles hergaben, was sie besassen. Oder eben andere, die anfingen zu kämpfen. Der Alte schien unbeeindruckt, und anstatt sich irgendwie zu bewegen fing er plötzlich an zu reden: "Was ist mit eurem Arm passiert? Wieso überfällt ein junger Bursche wie ihr einen alten schwachen Mann im Wald?" sagte er seelenruhig. Völlig irritiert kratzte sich der Dieb mit dem Messer am Kopf. Woher wusste der blinde Kerl, dass er nur einen Arm hatte? Nochmal sagte er: "Gib mir deine Sachen! Bitte, gib schon!", diesmal jedoch mit weniger Nachdruck und irgendwie klang es nun, als wäre er selber eingeschüchtert. "Nun sagt es mir schon, junger Mann. Wieso mordet ihr? Wieso raubt ihr? Was soll das? Schämen solltet ihr euch! Schämen!" schimpfte der Alte lautstark. In dem jungen Banditen ging eine merkbare Veränderung vor. Mit wütender Stimme sagte er dann: "Ich... hab' doch nichts! Irgendwovon muss ich doch meine Familie ernähren! Ich hab' drei Kinder und eine Frau, die hungrig sind! Sie sind wichtiger als alles, was es für mich gibt, und ich bin nur ein kleiner Dieb! Weisst du eigentlich, wie erbärmlich ich hausen muss, alter Mann?! Diebstahl ist alles, was mir bleibt!". Es klang so, als wolle er sich rechtfertigen; als hätte er eine Rechtfertigung für einen Diebstahl! "Ja, du hast richtig gehört, ich bin ein Dieb, aber anders würde ich sterben, und ich stehe dazu!" sprudelte es nur so aus seinem Mund. Der Alte schien sich etwas beruhigt zu haben.
Er sprach erneut: "Soso, und deswegen habt ihr wohl auch keinen Arm, hm? Dieben schlägt man den Arm ab, damit sie nichtmehr stehlen können". Dann plötzlich löste sich das verbitterte Gesicht des Alten und er fing an, herzlich zu lächeln. "Ihr seid der erste Mensch seit langem, der die Wahrheit sagt! Ihr seid ein Dieb, Abschaum, aber eure Absicht ist gerecht und ihr schämt euch für eure Taten, das sehe ich euch doch an!" sagte er dann mit langsamen Worten und lächelte immernoch. "Die Götter würden euch sicher eine zweite Chance gewähren, doch was vermag ich zu tun? Ich bin ein gebrochener Mann, und außer diesem Sand besitze ich nichts. Aber wisst ihr was? Ich schenke es euch, dann braucht ihr mich nicht zu bestehlen. Aber haltet fest an eurer Absicht." sprach der Alte und nahm das Messer aus der Hand des Banditen. Dann griff er in seine eigene Tasche, zog etwas heraus und drückte es in die Hand des jungen Diebes. Neugierig öffnete dieser seine Hand und im nächsten Augenblick leuchtete ihm goldfarbener Sand entgegen, der im Dämmerlicht des Waldes wunderbar schimmerte. Wie gebannt von dem Anblick konnte er seine Augen nicht lösen. Doch plötzlich verbleichte der Sand und wurde zu schmutziger Erde, die durch seine Finger auf den Boden rieselte und verschwand. Ein kalter Wind fuhr durch den Wald und blies ihm die Haare um die Ohren. In Gedanken wunderte er sich immernoch über die seltsamen Worte des blinden Mannes. Verständnislos blickte er zu genau jenem. Jedenfalls wollte er zu dem Alten blicken, doch der war verschwunden. Der Dieb stand ganz alleine im Wald auf einem kleinen Pfad, neben ihm auf dem Boden ein kleines Messer und ein Häufchen Dreck, der durch seine Finger gerieselt war. Verwirrt packte er sich an den Kopf, als wolle er überprüfen, ob er Fieber oder irgendeine schlimme Krankheit hätte. Umso größer war der Schock, als er merkte, dass er sich mit der völlig falschen Hand über die Stirn gestrichen hatte. Er fing an, laut, hysterisch und angstvoll zu schreien. An seiner rechten Schulter war ein Arm, anstatt dem Stumpf, der dort vorher gewesen war. Die Hand zu diesem Arm war es, mit der er sich über's Gesicht strich. Es war zweifelsfrei seine eigene. Zu seinen Füßen lag die Augenbinde des Alten.